Quelle? (Buchrevision und Recherche)

W.W. @, Dienstag, 31.12.2019, 17:44 (vor 1577 Tagen) @ Boggy

Ich zitiere aus "Multiple Sklerose", 6. Auflage 2018, S. 112:

Wie ist der natürliche Verlauf der MS?

Für den natürlichen Verlauf der MS gibt es drei Orientierungspunkte. Zunächst einmal die 1971 erschienene Studie aus Rochester, einer Kleinstadt in Minnesota. Die Einwohner wurden retrospektiv über 60 Jahre analysiert. Es zeigte sich, dass nach 25 Jahren ein Drittel der Patienten weiterhin arbeitsfähig und zwei Drittel gehfähig waren.1

Die Studie hat eine wichtige Fehlerquelle, die auch bei späteren Arbeiten eine große Rolle spielt: den sogenannten Auslese-Fehler (selection bias). Er ist leicht zu erklären: Je milder der Verlauf der MS ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich der statistischen Erfassung entzieht, weil sich die Betroffenen selten oder überhaupt nicht bei einem Neurologen oder in einer Klinik blicken lassen. Damit ist der Anteil der schweren Fälle in den Studien notorisch zu hoch. Das bestätigt die folgende Untersuchung. In einer Region in Hessen, in der alle MS-Patienten erfasst worden waren, wurden 200 Patienten, die von niedergelassenen Ärzten behandelt wurden, mit 200 Patienten verglichen, die in einer Krankenhausstudie untersucht worden waren. Der Anteil der gutartigen Fälle, bei denen Schübe selten auftraten und die Tendenz zum Fortschreiten gering war, betrug in der ersten Gruppe 36%, während nur 16% der Krankenhausserie einen entsprechend günstigen Verlauf zeigten.2 Mit anderen Worten: In den Krankenhäusern werden eher die ungünstig verlaufenden Fälle behandelt.

Aber es gibt noch einen weiteren Grund, warum die Daten der Rochester-Studie nicht auf unsere Zeit zu übertragen sind: Sie bezog sich auf MS-Betroffene, die zum größten Teil bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erkrankten. Sie sind mit den Betroffenen, deren MS heutzutage diagnostiziert wird, kaum zu vergleichen. Das liegt an der bereits erwähnten Verbesserung der diagnostischen Möglichkeiten: Je feiner die Diagnostik, desto größer wird der Anteil an leichteren Erkrankungsformen sein. Darum verbessert sich die Prognose unabhängig von der Therapie allein durch die Fortschritte in der Diagnostik.

Das wird durch zwei aktuelle Studien belegt. Die eine bezieht sich auf 2.837 Patienten, bei denen die MS in den 80er Jahren diagnostiziert wurde: 15 Jahre nach Erkrankungsbeginn hatten nur 21% einen EDSS von 6.0 (Benutzung einer Gehhilfe erforderlich) erreicht.3
Noch aussagekräftiger ist die sogenannte Olmsted County-Studie, die ich bereits in Kapitel 1 besprochen habe: In 10 Jahren betrug die durchnittliche Zunahme des EDSS 1,0 Punkte!
(Tremlett, H e.a. Disability progression in multiple sclerosis is slower than previously reported. Neurology 2006;66:172-177.)

Ich halte diese Studie für extrem wichtig!!!


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Die Olmsted County-Studie

1991 wurden im Verwaltungsbezirk Olmsted in Minnesota 162 MS-Patienten erfasst. Alle bis auf einen einzigen Patienten konnten nach genau 10 Jahren nachuntersucht werden. Das überraschende Ergebnis war: Die meisten Patienten waren stabil geblieben oder zeigten nur eine minimale Progression. 83% der Patienten, die 1991 einen EDSS von 3 und weniger aufwiesen, waren auch 2001 noch ohne Unterstützung gehfähig. Für die gesamte Gruppe betrug die durchschnittliche Verschlechterung des EDSS nicht mehr und nicht weniger als 1.0 Punkte.

Die Autoren kamen zu dem Schluss: „Je länger die MS besteht und je geringer der Behinderungsgrad ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass ein Betroffener stabil bleibt und sich seine Krankheit nicht weiter verschlechtert. Das trifft besonders auf Patienten mit gutartiger MS zu, die nach 10 Jahren oder länger einen EDSS von 2.0 oder weniger haben. Ihre Chance stabil zu bleiben, beträgt mehr als 90%.“

Ich denke, das ist eine sehr beruhigende Aussage.

(Pittock SJ e.a. Change in MS-related disability in a population-based cohort: a 10-year follow-up study. Neurology. 2004 Jan 13; 62(1):51-9.)

W.W.


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