Ich weiß nicht, wie Cortison wirkt. (Allgemeines)
Damit meine ich nicht, dass ich nicht genau weiß, wie Cortison wirkt, sondern dass ich es gar nicht weiß. Ich möchte das begründen.
Hinsichtlich von Cortison stehen sich zwei Lager feindlich gegenüber. Das eine (1) meint, Cortison dämpfe den Krankheitsverlauf (z.B. bei der MS), indem es die aus dem Ruder geratene Autoimmunreaktion abbremse.
Dieses 'Dämpfen' kann in zweierlei Hinsicht verstanden werden: Cortison könne a) den Entzündungsprozess abmildern und damit dafür sorgen, dass der entstehende Entzündungsherd nicht zu groß wird oder nicht zu zerstörerisch in seinem Inneren verlaufe. b) wurde früher einmal vermutet, Cortison könne aufgrund seiner abschwellenden Wirkung dazu beitragen, dass das durch die Entzündung angeschwollene Hirngewebe nicht zusätzlich in einem knöchernen Engpass (z.B. Canalis opticus) sozusagen "stranguliert" werde.
Letztere Möglichkeit ist durch viele Untersuchungen ausgeschlossen worden (Auch der relativ enge Canalis opticus ist geräumig genug, um auch den schwer entzündeten Sehnerven nicht einengen zu können!), so dass diese Schädigungsweise nicht mehr ernsthaft diskutiert wird. Auch Renate_S., die eine kompetente Cortison-Kennerin ist, hält nichts von einer etwaigen Strangulation von Hirngewebe, sondern ist der Ansicht, Cortison sei im akuten MS-Schub angezeigt, weil es die Entzündungsvorgänge im Herd bremse - auch wenn Renate_S. immer betont hat, die von der DMSG und der internationalen MS-Gesellschaft empfohlenen Cortisondosen im akuten Schub seien "Killerdosen", also viel zu hoch dosiert.
Das andere Lager (2) meint, Cortison habe zwar eine abschwellende (antiödematöse) Wirkung, aber diese beeinflusse den Krankheitsprozess eher negativ, weil die Schwellung ein Bestandteil des Ausheilungsprozesses sei, in den man nicht ungestraft eingreifen solle.
Ich persönlich meine, man solle im akuten MS-Schub in jedem Fall auf eine Cortisonbehandlung verzichten, weil Cortison den Entzündungsprozess wie ein Scharlatan vorübergehend zum Stillstand bringt, diesen dabei aber keineswegs günstig beeinflusst, sondern diesen nach Tagen zum Wiederaufflackern bringt, wenn man zu früh wieder absetzt, bzw. schwere Nebenwirkungen verursachen kann.
Damit habe ich versucht, die übliche Einstellung zur Cortisonbehandlung im frischen MS-Schub darzustellen, aber es geht mir auch noch um ein 3., das mir ebenfalls rätselvoll erscheint.
Man hält es nach Selye für allgemein akzeptiert, dass Cortison ein Stresshormon ist, d.h. es regelt das Fight-or-Flight-Verhalten, versetzt also den Organismus in die Lage, blitzschnell zu entscheiden, ob man besser kämpfen oder fliehen soll. Pb hat hier im Forum immer wieder auf eine weitere Möglichkeit hingewiesen, die bei der MS eine Rolle spielen könnte: Man kann in einer Gefahrensituation wie "festgenagelt" verharren, wenn beide Stricke, die an einem in entgegengesetzten Richtungen ziehen gleich stark sind. Man nennt das '"freezing" ("einfrieren").
Obwohl ich glaube, dass dieser Freezing-Reaktion bei der MS tatsächlich eine wichtige Rolle zukommt, möchte ich hier von etwas anderem sprechen, was vielleicht manchem unangemessen und zu wenig begründet erscheinen mag - es ist auch nur ein "lautes Denken": Ich glaube(!), Cortison dämpft unsere Todesangst! Es könnte sogar in der Lage sein, sich dem Tod, der sich einem bedrohlich und unausweichlich nähert, trotz seiner Entsetzlichkeit hinzugeben, ohne Angst oder Schmerzen zu verspüren.
W.W.