Liebe Julia,

Sie wissen es bestimmt: Heiligabend hat uns mein Schwiegerfreund (der Freund meiner Tochter) eine bemerkenswerte Komposition von Olivier Messiaen vorgespielt, das er auf CD mitgebracht hatte. Es war ein etwa achtminütiges Orgelstück, in dem sich immer dieselbe Tonfolge wie bei einer Passacaglia(Chaconne?) wiederholte, und der Takt bei jeder Wiederholung erst 3/4 war, um sie dann immer wieder im Unbestimmten auflöste. Trotzdem ein Ohrenwurm wie der Kanon von Pachelbel.

Ich meine, es ging um ein Schiff, was die Kirche symbolisiert, was erst nur in der Ferne zu sehen ist, aber dann 'mächtig und gelind' immer näher kommt und schließlich wieder verschwindet.

Weil Weihnachten ist und weil das Stück so beeindruckend war, habe ich mich mit Schleiermachers 'Über die Religion' - Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern' beschäftigt. Erst jetzt merke ich, dass das eine Religionsauffassung ist, die ich voll und ganz teilen kann: Unser religiöses Bedürfnis hat nichts mit unserer Unsterblichkeit und einer Belohnung im Jenseits zu tun, sondern ist ein Gefühl. das uns angesichts des Universums überwältigt.

So gesehen, kann man durchaus Christ sein, obwohl ich jetzt bestimmt etwas sehr falsch oder sehr missverständlich formuliert habe.

W.W.