EBV und MS - die ganze, lückenhafte Wahrheit I (Allgemeines)

Boggy, Montag, 19.12.2022, 15:24 (vor 487 Tagen)

Ich beziehe mich auf diesen Artikel, und beschreibe einige meiner Beobachtungen und Gedanken dazu:

Soldan, S.S., Lieberman, P.M. Epstein–Barr virus and multiple sclerosis. Nat Rev Microbiol 21, 51–64 (2023). https://doi.org/10.1038/s41579-022-00770-5 ]
(veröffentlicht am 5. August 2022 / Ausgabe January 2023)

https://www.nature.com/articles/s41579-022-00770-5#Abs1


Der Artikel liefert eine ausgesprochen umfangreiche Darstellung des Wissens, Halbwissens und Nicht-Wissens zu Thema Epstein-Barr-Virus und Multiple Sklerose. Das Literaturverzeichnis listet 233 Fachartikel.
Das alles ist erfreulich.

Auffallend ist allerdings dann, wie uneinheitlich die Rolle, die EBV im Rahmen von MS angeblich oder tatsächlich spielen soll, eingeschätzt wird. Zum einen von den Autoren selbst, und zum anderen in den zitierten Quellen.

Zusammengefaßt ist mal von EBV als "Risikofaktor" die Rede, und ein anderes Mal von "Ursache" oder von "Voraussetzung".
Dann wiederum von "Antreiber" oder "Auslöser" ("either drivers or triggers").

Das ist kein sprachliches Problem, sondern ein Problem in der Sache: entweder haben wir es mit einem "Risikofaktor" zu tun oder mit einer "Voraussetzung“ oder mit einer "Ursache". Das ist nicht dasselbe. Das eine ist nicht das andere. Dasselbe gilt für "Antreiber" oder "Auslöser".
Es geht um die tatsächlichen Krankheitsprozesse, die beschrieben/erfaßt werden => was ist es?!
Und es macht einen Riesenunterschied in den Auswirkungen für Verständnis, Forschung und mögliche Behandlung, ob es das eine, das andere oder sonst etwas ist.

Vorweggenommenes Fazit: Es herrscht also Uneinigkeit darüber, welche Rolle EBV bei MS spielt. Die Frage ist nicht geklärt - das folgt aus den Aussagen der Autoren im Artikel auf der Grundlage der von ihnen zitierten Quellen mit zum Teil widersprüchlichen Ergebnissen. So ergibt sich über den gesamten Artikel hinweg ein widersprüchliches Bild.

Einige Beispiele:

"Nichtsdestotrotz haben sich epidemiologische, serologische und virologische Beweise angehäuft, die die Rolle des EBV in der Ätiologie der MS untermauern, wobei neuere große bevölkerungsbezogene Studien zeigen, dass eine EBV-Infektion wahrscheinlich eine Voraussetzung für die Erkrankung ist (siehe 7, 16, 17, 18; Tabelle 1).
In der bisher aussagekräftigsten epidemiologischen Studie über Viren und MS wurden mehr als zehn Millionen Angehörige der US-Armee über einen Zeitraum von 20 Jahren beobachtet, und es zeigte sich ein 32-fach erhöhtes Risiko für MS (...)"


("Nevertheless, epidemiological, serological and virological evidence has accumulated to support the role of EBV in the aetiology of MS, with recent large population-based studies demonstrating that EBV infection is likely a prerequisite for disease (reviewed in refs.7,16,17,18; Table 1). In the most definitive epidemiology study on viruses and MS to date, more than ten million US army personnel were followed up over 20 years, and a 32-fold increased risk of MS (...)"


Die Widersprüchlichkeit zeigt sich hier im Gebrauch des Ausdrucks "Beweise" einerseits, und der folgenden Einschränkung "wahrscheinlich" andererseits. Abgesehen davon wird wieder Bezug genommen auf die problematische Harvard-Studie in "science" mit dem - wie ich weiterhin finde - verzerrenden Hinweis auf die 10 Millionen Teilnehmer, wobei ausgelassen wird, daß im Endstadium nur 32 Personen die Grundlage der Studie bilden.
Ich halte das tendenziell für irreführend, weil der Studie dabei eine scheinbare Bedeutung zugeschrieben wird, um sie aussagekräftiger erscheinen zu lassen, die sie tatsächlich nicht hat. Das gitl auch für das angebliche 32fache Risiko, das daraus abgeleitet wird.

--
Um unserer persönlichen und gesellschaftlichen Freiheit willen müssen wir immer wieder die Saat des kritischen Verstandes und des begründeten Zweifels säen.

Tags:
EBV, Epstein-Barr-Virus

EBV und MS - die ganze, lückenhafte Wahrheit II

Boggy, Montag, 19.12.2022, 15:31 (vor 487 Tagen) @ Boggy

(link zum Artikel: https://www.nature.com/articles/s41579-022-00770-5 )

Es gibt eine Reihe von Aussagen, die die offenen Fragen und Ungewißheiten ansprechen, erfreulicherweise; z.B.:

"Es gibt viele Lücken in unserem Verständnis, wie die Reifung des Immunsystems einen sich entwickelnden Prozess der EBV-gesteuerten Autoimmunreaktivität auslöst, der zur Entwicklung von MS führt. CMV, Zytomegalievirus."
("There are many gaps in our understanding of how the maturation of the immune system triggers an evolving process of EBV-driven autoimmune reactivity leading to the development of MS. CMV, cytomegalovirus.")

"Zunehmend wird erkannt, dass EBV auch ein wichtiger Risikofaktor für verschiedene Autoimmunerkrankungen ist, insbesondere für Multiple Sklerose (MS)."
("Increasingly, it is appreciated that EBV is also a major risk factor for several autoimmune disorders, notably multiple sclerosis (MS).")

"Es bleibt jedoch eine Herausforderung, die genauen Mechanismen des EBV bei der Entwicklung von MS zu bestimmen, da das Virus nicht immer in MS-Läsionen gefunden wird."
("However, determining the precise mechanisms for EBV in the development of MS remains challenging because the virus is not always found in MS lesions.")

"Defekte in der Kontrolle der lytischen EBV-Reaktivierung wurden für MS vermutet, aber die Ergebnisse bleiben umstritten 53,54,55"
("Defects in the control of EBV lytic reactivation have been suggested for MS, but the findings remain controversial53,54,55")

"Die Immunreaktionen auf eine EBV-Infektion sind sehr unterschiedlich und werden durch Genetik, Umwelt und Alter beeinflusst.
("Immune responses to EBV infection differ widely and are influenced by genetics, the environment and age.")

"Somit kodiert EBV zahlreiche Gene, die die angeborene und adaptive Immunität deregulieren, und es ist noch nicht klar, welche dieser Wege, wenn überhaupt, am stärksten an der Pathobiologie der MS beteiligt sind."
("Thus, EBV encodes numerous genes that deregulate innate and adaptive immunity, and it is not yet clear which, if any, of these pathways are most involved in the pathobiology of MS.")

"Jedoch konnten in mehreren Studien keine Hinweise auf EBV-positive B-Zellen im Liquor von Patienten mit MS oder MS-Läsionen im ZNS gefunden werden"
("However, several studies failed to find evidence of  EBV-positive B cells in the CSF of patients with MS or MS lesions in the CNS-")

Die Autoren schließen den Artikel mit dieser Einschätzung:
"Trotz jahrelanger Kontroversen dürfte wahrscheinlich die Rolle der EBV-Infektion und der Seropositivität als wesentliche Kofaktoren für die meisten MS-Formen nun geklärt sein."
("dürfte wahrscheinlich" als Übersetzung für "may")
("Despite years of controversy, the role of EBV infection and seropositivity as essential co-factors for most forms of MS may now be settled.")

Und schließlich einigen sie sich auf "wahrscheinlicher Antreiber", um die Rolle von EBV zu beschreiben:
"Das Wissen, dass EBV ein wahrscheinlicher Antreiber für entzündliche Autoimmunerkrankungen ist, bietet ein Ziel für zukünftige Therapien."
("Knowing that EBV is a likely driver of inflammatory autoimmune disease provides a target for future therapies.")

Wobei sie innerhalb des Artikels noch geschrieben hatten:
"EBV ist ein Auslöser (d. h. es muss vor dem Ausbruch der Krankheit erworben werden); seine Rolle als mutmaßlicher "Treiber" des Krankheitsverlaufs ist jedoch nur unzureichend definiert. "
("EBV is a trigger (that is, it must be acquired before the onset of disease); however, its role as putative ‘driver’ of disease progression is poorly defined.")

In diesem Sinne ;-)

Gruß
Boggy

(Könnte der Hausmeister freundlicherweise wieder Tags setzen? EBV, Epstein-Barr-Virus ;-) )

--
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Tags:
EBV, Epstein-Barr-Virus

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EBV und MS - die ganze, lückenhafte Wahrheit II

Zoe @, tieef im Weeeeesten, Montag, 19.12.2022, 19:18 (vor 487 Tagen) @ Boggy

Danke,flowers für deine sorgfältige Aufbereitung der diffusen Datenlage, Boggy!
:clap: :wink: Zoe

--
Still sitzend, nichts tuend, kommt der Frühling und das Gras wächst von allein.
Zhuangzi (chin. Philosoph und Dichter 365 - 290 v. Chr.)

Danke Boggy

MO @, Zürich, Montag, 19.12.2022, 15:55 (vor 487 Tagen) @ Boggy

Vielen Dank für diese verständliche Zusammenfassung.

--
Ich liebe den Herbst, dank seinen kühleren Temperaturen erwacht mein Geist.

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DANKE

UWE, Montag, 19.12.2022, 23:12 (vor 487 Tagen) @ Boggy

Auch von mir ein großes Dankeschön.

Ich befürchte die Sachlage wird immer verwirrender je tiefer man hier einsteigt.

Ein Fass ohne Boden...

Alles Gute
Uwe

--
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Denn Jedermann ist überzeugt, dass er genug davon habe.
– René Descartes

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Licht am Horizont

naseweis ⌂ @, in meinem Paradies, Dienstag, 20.12.2022, 15:14 (vor 486 Tagen) @ UWE

Auch von mir ein großes Dankeschön.

Ich befürchte die Sachlage wird immer verwirrender je tiefer man hier einsteigt.

Wenn ich Boggys Zusammenfassung
richtig erfasst hab,
bleibt alles offen.

Die Einen sagen so,
die Andern sagen so!

Und nix is fix
und nix für uns
zur Soforthilfe :-(

Dann gucken wir ins Licht
und hoffen auf Spontanheilung.


[image]

--
das Geheimnis der Medizin besteht darin,
den Patienten abzulenken,
während die Natur sich selber hilft (Voltaire)

Sisyphos hatte es auch nicht leicht

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Licht am Horizont

UWE, Mittwoch, 21.12.2022, 14:06 (vor 485 Tagen) @ naseweis

Hoffnung gibt es für mich immer

Bei Amsel läuft der Faden, den ich gestartet habe inzwischen in interessante, mir noch nicht bekannte Richtungen.

"Prof. Dr. Sven Meuth erklärt für wen und zu welchem Zeitpunkt der Multiplen Sklerose die Stammzelltransplantation / HSCT / aHSCT Sinn macht"

LG
Uwe :wink:

--
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Denn Jedermann ist überzeugt, dass er genug davon habe.
– René Descartes

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Stammzellentransplantation bei MS?

agno @, Mittwoch, 21.12.2022, 15:39 (vor 485 Tagen) @ UWE

Hoffnung gibt es für mich immer

Bei Amsel läuft der Faden, den ich gestartet habe inzwischen in interessante, mir noch nicht bekannte Richtungen.

"Prof. Dr. Sven Meuth erklärt für wen und zu welchem Zeitpunkt der Multiplen Sklerose die Stammzelltransplantation / HSCT / aHSCT Sinn macht"

LG
Uwe :wink:

Hi Uwe
Ich dachte dass Wir das hier schon durch hätten?
Stammzellentransplantation zu Beginn der MS, scheint grundsätzlich eine Möglichkeit zu sein. Die Sterblichkeit sinkt jedes Jahr. Inzwischen macht man sogar eine Variante von Stammzellentransplantion-light. Fast ohne Sterblichkeit aber nach einigen Jahren ist wieder alles wie zuvor.
??
Und nun?
Zur MS-Jungfrau macht mich niemand mehr, pflegte mein lieber alter Neurologe zu sagen. Marathonlauf habe ich in diesem Leben abgehakt. Verkaufsprediger sind mir ein Gräul. Was mir bleibt ist dieser Tanz zwischen allgemeiner Gesundheit, gutem Schlaf, komplexe Krankengymnastik und irgendwo noch etwas Sinn & Spass im Leben pflegen.
Ein alter Freund meinte vor langer Zeit, dass man irgendwo zwischen 50 und 60 bei einer "nachhaltigen MS" nicht mehr um ein paar Extramonate kämpfen sollte. Das was es gäbe, zusammen mit dem zerspanten Gehirn, sei nicht lustig.
Insofern werde ich hoffentlich die nächsten Jahrzehnte so weiter machen. Irgendwie fühle ich mich noch nicht sterbebereit.
Aber welchen Einsatz der junge MSler geben will und was er sich dabei erhofft...???
Es ist für mich sehr schwierig da eine Richtung zu bewerben. Ich mag insgesammt diese Hype um Hoffnung trotz MS nicht.
Bitte fühle Dich von mir nicht abgewertet, ich lese Dich wirklich sehr gerne!!!!
liebe Grüße agno

P.S.: Vor zB fünf Jahren http://ms-ufos.org/index.php?id=21146

--
Weiß nicht, woher ich komm, weiß nicht, wie lang ich bleib, weiß nicht, wohin ich geh, mich wundert, dass ich glücklich bin ...

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Stammzellentransplantation bei MS?

UWE, Mittwoch, 21.12.2022, 23:13 (vor 485 Tagen) @ agno

Du hast mich leider falsch verstanden.

Am Anfang lief der Diskussions-Faden um den Link zu Prof. Meuth im altbekannten längst ausdiskutierten HSCT-Muster.

Aber gegen Ende der laufenden Diskussion wirds interessant mit den Spezialverfahen, die jetzt wohl in der Pipeline sind.
Halt auch für SPMS und nicht nur frühe RRMS.

Und Hoffnung war und ist für mich kein Hype

Aber egal, dem muss niemand folgen.

So long
Uwe shades

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Denn Jedermann ist überzeugt, dass er genug davon habe.
– René Descartes

Stammzellentransplantation bei MS?

fRAUb, Donnerstag, 22.12.2022, 07:06 (vor 484 Tagen) @ UWE

Ich find das jetzt seltsam.

Ist denn geklärt, dass die MS genetisch bedingt ist?

Nach meinem (sehr Laienhaften) Verständnis, müsste dann ja nachzuweisen sein, dass ein allel fehlerhaft ist. Hat man da denn etwas gefunden?

Ich weiß nicht, Uwe?

Was bringt denn eine Stammzellentransplantation, wenn kein Fehler in den Genen vorliegt?

Eine immun Reaktion auf Körperfremdes Gewebe. Und dann sind wir wieder da, wo wir am Anfang waren : du kannst Tonnen immunsuppressiva in dich rein kippen (lassen)

MS ist wie der Krieg in der Ukraine. Es gibt keine off-ramp.

*schulterzuck So ist das halt.

Ich persönlich, bin der Meinung, dass man mit der Spezialisierung auf die neuroimmunologie auf das falsche Pferd gesetzt haben könnte.

Einer, der für mein laienhaftes Verständnis, bereits auf dem richtigen pfad sein könnte, ist Heinz Wiendl.

Er hat Zusammenhänge festgestellt, die ich nachvollziehen kann.
Ich würde mir in der Sache, mehr interdisziplinäre Zusammenarbeit wünschen.

Aber auch da gibt es (noch) keine off-ramp.

Mehr hab ich dazu nicht zu sagen.

Wir müssen das einfach weiter aushalten.

Vielleicht gilt für uns in der Sache auch der Satz des unbekannten Psychiaters "Das ist eine Prüfung".

Ich muss den Ursprung dieser Aussage nicht teilen, um zu erkennen, dass allein dieser eine Satz sehr bei der Bewältigung von den Unwägbarkeiten des Lebens behilflich sein kann.

"Es ist eine Prüfung" und natürlich kommt sofort der innerliche Ansporn hinterher, diese bestehen zu wollen.

Nun denne...

Fortsetzung folgt.

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