Kurt Goldstein und die Gestalttheorie (Allgemeines)

W.W. @, Freitag, 16.04.2021, 12:52 (vor 1077 Tagen)

Ich habe mich ernsthaft bemüht, den Gedanken von Kurt Goldstein näherzukommen, aber es ist mir nicht gelungen. Das mag zunächst etwas damit zu tun haben, dass ich gelernt habe, dass Gestalt-Theorie und Gestalt-Therapie zwei unterschiedliche Paar Schuhe sind und Kurt Goldstein wohl eine dritte Meinung vertritt.

Ich muss zugeben, dass ich mich gescheut habe, mich in die Originalwerke von Kurt Goldstein zu vertiefen, weil ich merke, dass mir die Zeit immer mehr davonläuft.

Dazu kam, dass ich mich durch eine dreifache Mauer von dem getrennt fühle, was ich sagen will.

Die 1. Mauer ist, dass ich die Wirklichkeit nur subjektiv erlebe, also durch meinen besonderen Sinnesapparat und meine besondere Assoziationen in meinem Gehirn. Das heißt, ich spreche von etwas rein Subjektivem, wenn ich meine, von der Welt zu sprechen, wie sie wirklich ist.

Die 2. Mauer ist, dass ich das, was ich subjektiv empfinde, sprachlich nicht ausdrücken kann. Ich kann nicht "sagen", wie eine Rose duftet oder ein Wein schmeckt.

Das 3. ist und damit nähern wir uns wohl dem Goldsteinschen Ansatz: Ich habe keine Ahnung, ob es ein erfolgversprechender Weg ist, wenn ich die Dinge, die mir begegnen, in Einzelteile zerlege, um erst die Einzelteile, dann das Ganze besser zu verstehen.

Man kann auf diese Descartessche Art verfahren, aber ich habe das Gefühl, dass ich dann, wenn ich so verfahre, das funktionierende Ganze abtöte, indem ich es auseinanderschneide - als nähme ich ihm das Wesentliche. Ich glaube, diesen Einwand hat auch schön Goethe vorgebracht.

Ich kann also keine klare Antwort geben, um aber trotzdem auf das Grundproblem zurückzukommen: Besteht der menschliche Körper a) aus seinen Einzelteilen (Nieren und Leber) und b) dem geistigen Band, das ihn beseelt und funktionsfähig macht?

Ich nehme an, dass in diesem Leib-Seele-Gegensatz die Hormone und das Immunsystem zu kurz kommen, als seien beide etwas Vermittelndes, was zwischen Körper und Seele steht. Aber das sind schwer zu begründende Spekulationen:-(, und ich muss mich für die Wirrheit meines Textes entschuldigen.

W.W.

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@ W.W.: Bezüglich Gestalttheorie und Forenstruktur

agno @, Freitag, 16.04.2021, 14:59 (vor 1077 Tagen) @ W.W.

https://de.wikipedia.org/wiki/Kurt_Goldstein_(Mediziner)
Gibt es einen Grund, warum du dieses Posting nicht an den Letzten oder einen beliebigen Thementhread mit Boogy
http://ms-ufos.org/forum/index.php?id=70452
http://ms-ufos.org/forum/index.php?id=69448
http://ms-ufos.org/forum/index.php?id=24722
geklebt hast?
Gruß agno

--
Weiß nicht, woher ich komm, weiß nicht, wie lang ich bleib, weiß nicht, wohin ich geh, mich wundert, dass ich glücklich bin ...

Kurt Goldstein und die Gestalttheorie

W.W. @, Freitag, 16.04.2021, 15:59 (vor 1077 Tagen) @ W.W.

Kurt Goldstein steht im Gegensatz zur Lokalisationstheorie des Gehirns (Gall - Broca - Wernicke - Kleist), dass also die Hirnrinde wie eine Landkarte in eine Vielzahl von Regionen aufgeteilt ist, wobei jede eine spezielle Funktion hat.

Er war wohl der Ansicht, dass Menschen, bei denen eine bestimmte Hirnregion zerstört worden war, durchaus nicht der Fähigkeiten verlustig ging, die sich in diesem Hirnbezirk angesammelt hatten, sondern dass diese langsam von benachbarten Hirnregionen übernommen werden konnten.

In gewisser Weise ähnelte sein Ansatz also Sonja Wierk.

Die Neuauflage seines Werks 'Der Aufbau des Organismus' erschien mit einem Vorwort von Oliver Sacks.

W.W.

Kurt Goldstein und die Gestalttheorie

Boggy, Freitag, 16.04.2021, 17:00 (vor 1077 Tagen) @ W.W.

Er war wohl der Ansicht, dass Menschen, bei denen eine bestimmte Hirnregion zerstört worden war, durchaus nicht der Fähigkeiten verlustig ging, die sich in diesem Hirnbezirk angesammelt hatten, sondern dass diese langsam von benachbarten Hirnregionen übernommen werden konnten.

In gewisser Weise ähnelte sein Ansatz also Sonja Wierk.

Die Neuauflage seines Werks 'Der Aufbau des Organismus' erschien mit einem Vorwort von Oliver Sacks.

Ich bin mir nicht sicher, ob Sie Goldstein hier zutreffend wiedergeben. Anders gesagt, ich habe meine Zweifel. Meine eigene Beschäftigung mit Goldstein liegt schon relativ lange zurück, und meine Erinnerung ist nicht mehr gut genug. Ich kann mich aber jetzt nicht erneut einarbeiten (obwohl es mir sicher wieder Freude machen würde).

Das Vorwort von Oliver Sacks erscheint in der englischen, nicht der deutschen Neuauflage.

Ich empfehle nochmals die umfangreiche, sehr informative (!) Einführung in Goldsteins "Aufbau des Organismus" für alle, die mehr wissen möchten s. link (pdf) =>

http://www.th-hoffmann.eu/downloads/Hoffmann.Stahnisch.2014-Zur_Einfuehrung.pdf

Und zitiere hier nochmal daraus, vielleicht bringt das etwas Erhellung:

"Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs kommen tausende Soldaten mit Kopfverletzungen an GOLDSTEINs Institut in Frankfurt. Darunter auch ein 24jähriger Bergarbeiter, der 1915 als Soldat durch einen Minensplitter im Bereich des Hinterhaupt- und Schläfenlappens verletzt wird und als „Fall Schneider“(siehe GELB/GOLDSTEIN1918)in die Geschichte der Neuropsychologie eingeht.

Die hauptsächlichen Ausfallerscheinungen dieses Patienten liegen auf dem Gebiet des optischen Wahrnehmens und Erkennens: Sein Syndrom der „Seelenblindheit“ oder „optischen Agnosie“, das sich in der Unfähigkeit äußert, trotz intakten Sehsinns optische Gestalten, Bilder und Symbole zu erkennen, kann von GELB und GOLDSTEIN erst durch aufwändige experimentalpsychologische Untersuchungen nachgewiesen werden, da der Patient zum Teil unbewusste Strategien entwickelt hatte, mit seinen Störungen umzugehen und diese auf Umwegen auszugleichen.

So hatte er beispielsweise gelernt, mittels Kopf- und Handbewegungen die Gestalt der Buchstabenin einem Text nachzufahren und auf diese Weise zu lesen. Hinderte man ihn daran, indem man etwa seinen Kopf oder seine Hand fixierte, war er dazu nicht mehr in der Lage."

THOMAS HOFFMANN UND FRANK W. STAHNISCH; EINFÜHRUNG: S. XXVII

Gruß
Boggy

--
Um unserer persönlichen und gesellschaftlichen Freiheit willen müssen wir immer wieder die Saat des kritischen Verstandes und des begründeten Zweifels säen.

Kurt Goldstein und die Gestalttheorie

W.W. @, Freitag, 16.04.2021, 18:39 (vor 1077 Tagen) @ Boggy

Meine Überlegungen, die zugegebener Weise etwas langsam sind, bezogen sich vielleicht zu sehr auf die Lokalisationstheorie, also ob unser Gehirn in Zuständigkeitsbereiche eingeteilt ist wie Deutschland in Bundesländer.

Die Hoffnung könnte ja sein, dass unser Gehirn "plastisch" ist und wir es "umtrainieren" könnten. Ich glaube(!), das ist nicht der Fall. Zumindest scheint mir die Möglichkeit überschätzt zu werden.

Anders gesagt; Vielleicht können wir unser Gehirn im höheren Lebensalter schlechtumtrainieren, so wie wir im höheren Lebensalter kaum noch fähig sind, eine neue Sprache zu lernen.

W.W.

Kurt Goldstein und die Gestalttheorie

W.W. @, Samstag, 17.04.2021, 11:05 (vor 1076 Tagen) @ W.W.

Nachdem ich jetzt noch einmal darüber nachgedacht habe, war es wohl dieser Gedanke, der mich hinsichtlich von Kurt Goldstein bewegt hatte: Könnte unser Gehirn "plastischer" sein, als wir es bisher angenommen hatten? Es wäre also denkbar, dass sich unser Gehirn, wenn es von Demyelinisierungsherden durchsetzt und geschädigt worden sei, es sich von "gesunden" Hirnbezirken aus neu und anders strukturieren könnte, indem es z.B. Umwege sucht und Sackgassen ausbaut. Das waren ja wohl die Ideen von Moshe Feldenkrais und Sonja Wierk.

Leider kenne ich keine Hinweise darauf, dass das möglich sein könnte, obwohl viele MS-Betroffene große Hoffnungen auf die "Neuroplastizität" gesetzt hatten. Desillusioniert komme ich zu dem Schluss, dass die erhoffte Neuroplastizität eine Hoffnung war, die sich ebenso wenig erfüllt hat, wie es möglich ist, dass ein ausgewachsenes Gehirn eine neue Sprache erlernt, auch wenn es noch so guten Sprachunterricht bekommt.

Warum ich vor vielen Jahren anders gedacht habe? Mich hatten damals die frischen Erkenntnisse der Hirnforschung mitgerissen, dass die Hirnzellen sich zwar nicht teilen, aber deswegen noch lange nicht tot sind, sondern dass in ihren Axonen und Dendriten ein schwer beschreibbares "Leben" vorhanden ist, der jeder Nervenzelle ermöglicht mit anderen Nervenzellen Kontakt aufzunehmen.

Leider scheint diese "Lebendigkeit" in den Nervenfortsätzen nicht auszureichen, damit sich das Gehirn neu erfindet und neu strukturiert, wenn einzelne Bereiche geschädigt wurden.

Ich danke Boggy, dass er mir noch einmal Anlass gegeben hat, über diese alten Gedanken nachzudenken, aber ich muss leider zugeben, dass ich in dieser Richtung keinen erfolgversprechenden Weg mehr sehe.

Das Fazit könnte für mich sein, dass wir wenig daran ändern können, wenn jemand von MS-Herden befallen wurde. Oder ist das zu viel behauptet? Haben wir keinen Einfluss?

Könnten wir nicht verhindern, dass auch, wenn die Anlage zu einer MS seit Jugend in uns steckt, dass sie sich 1. ausbreitet (also schubweise immer neue Hirn- oder Rückenmarksbezirke ergreift), oder könnten wir 2. den Zerstörungsprozess in einem Herd vielleicht rechtzeitig stoppen, dass also das umgebende Hirngewebe den Schaden sozusagen "ausstopft", bevor er zu einer endgültigen Zerstörung geführt hat?

Damit bin ich ungewollt wieder bei einer Immunmodulation, also einer "Beruhigung" unseres Immunsystems gelandet. Also bei dem, was die Autoimmuntheorie der MS behauptet und die Basistherapie erreichen will? Also bei dem, was ich ablehne!

Ich glaube, ich denke anders, obwohl ich weiß, dass das müßige Spekulationen sind: Dass das Immunsystem außer Rand und Band gerät, scheint mir nicht die wirkliche Ursache der MS zu sein, sondern davor muss noch eine andere Ursache liegen?! Wie könnte man sie beschreiben? Vielleicht so: Was wirkt so auf das Immunsystem ein, dass es Fehler begeht und beginnt, körpereigene Zellen wie das Myelin anzugreifen?

W.W.

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Immunmodulation mal anders

naseweis ⌂ @, in meinem Paradies, Samstag, 17.04.2021, 11:41 (vor 1076 Tagen) @ W.W.


Damit bin ich ungewollt wieder bei einer Immunmodulation, also einer "Beruhigung" unseres Immunsystems gelandet. Also bei dem, was die Autoimmuntheorie der MS behauptet und die Basistherapie erreichen will? Also bei dem, was ich ablehne!

Geht Immunmodulation auch anders?

"Tu was dir gut tut!"

Das empfahl mir meine Hausärztin im Sommer *99 als ich die Diagnose frisch auf dem Tisch hatte.

Das klang grausig,
das klang so final :crying:

War das aber nicht eher eine Modulation des Immunsystems?
Das Leben beruhigen, die Lebensumstände an mich anpassen?

--
das Geheimnis der Medizin besteht darin,
den Patienten abzulenken,
während die Natur sich selber hilft (Voltaire)

Sisyphos hatte es auch nicht leicht

Leben mit MS, und Goldstein-Gedanken

Boggy, Samstag, 17.04.2021, 13:31 (vor 1076 Tagen) @ naseweis

Damit bin ich ungewollt wieder bei einer Immunmodulation, also einer "Beruhigung" unseres Immunsystems gelandet. Also bei dem, was die Autoimmuntheorie der MS behauptet und die Basistherapie erreichen will? Also bei dem, was ich ablehne!


Geht Immunmodulation auch anders?
"Tu was dir gut tut!"
Das empfahl mir meine Hausärztin im Sommer *99 als ich die Diagnose frisch auf dem Tisch hatte.
Das klang grausig,
das klang so final :crying:

War das aber nicht eher eine Modulation des Immunsystems?
Das Leben beruhigen, die Lebensumstände an mich anpassen?

Das erinnert mich nun wieder an ein Zitat von Anne Harrington aus ihrem Geleitwort zur Neuauflage von Goldsteins "Aufbau des Organismus".

"Auf der Grundlage dieser existentiellen Dimension der Hirnverletzungen, vertritt GOLDSTEIN die Auffassung, dass die therapeutischen Aufgaben der Neurologie in einer neuen Weise verstanden werden müssen: selbst dort, wo es offenkundig ist, dass die hirnverletzten Patienten nicht mehr „geheilt“ und auf das Funktionsniveau vor der Verletzung zurückkehren können, bedeutet dies nicht, dass den Patienten zu keinem erneuten Zustand voller „Gesundheit“ verholfen werden kann.

Der Prozess der Gesundung muss (nach Goldstein) demnach auf völlig neue Weise verstanden werden, nämlich als eine Reihe von Schritten, die dem Individuum zu einer Wiederherstellung seines Selbstwertgefühls verhelfen, so dass eine Neuordnung seines Verhältnisses zur Umgebung möglich wird und das Leben sich mit neuem Wert erfüllt.

Das Bemühen des Patienten, eine neue Form des existentiellen Gleichgewichts zu erreichen, lehrt uns heute, dass das menschliche Gehirn einen grundlegenden Trieb aufweist, „sich im Hinblick auf sein inneres Wesen zu aktualisieren“.
(...)

Jedenfalls bleibt das Hauptziel wieder man selbst zu sein und ein kohärentes Leben zu verwirklichen, im Einklang mit den neuen Fähigkeiten und der eigenen Identität. Gesundheit bekommt so den Status eines existenziellen Werts, der über den Zustand einer gut funktionierenden Maschine weit hinausgeht."

Ich habe übrigens noch einen link gefunden, in dem auch Anne Harringtons Geleitwort zu lesen ist (man muß länger runterscrollen).

https://www.researchgate.net/publication/309505806_Preface_to_the_Commented_Second_Edition
(neues Fenster/tab)

Ich habe etwas gezögert, ob ich dieses Harrington-Zitat posten sollte; denn mit dem Begriff des "Wesens" begibt man sich in philosophisch-psychologisch gefährliches Fahrwasser, und wird eventuell - eh man sich versieht - in mythisch-esoterische Sümpfe gezogen.
Goldstens Überlegungen hingegen vollziehen sich auf der Grundlage seiner medizinisch-naturwissenschaftlichen Arbeiten.

Ähnliche Probleme ergeben sich aus seinem Verständnis von "Gesundheit", das im Zitat allerdings schon angedeutet wird.

Ich behelfe mich derweil mit einem Zitat aus Tante Wiki, weil ich mich sonst für substantiellere Zitate aus Goldsteins Werk selbst wieder einarbeiten müßte, was ich - wie gesagt - zur Zeit nicht kann, und was ich bedauere, weil Mißverständnisse des Werks Goldsteins entstehen könnten, ohne daß ich korrigieren kann. :-(

Vielleicht können all diejenigen, die sich nun mehr für Goldstein interessieren, das einfach im Hinterkopf behalten. Alles, was ich hier schreibe oder poste, gilt sozusagen unter Vorbehalt. :-)

"Unter „Wesen“ versteht Goldstein die dem Organismus zugehörigen Eigentümlichkeiten seiner Individualität und die „Aufrechterhaltung der relativen Konstanz des Organismus“".

Gruß
Boggy

--
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Tags:
Leben mit MS, Ganzheit

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Leben mit MS, und Gestaltungs-Gedanken

agno @, Samstag, 17.04.2021, 15:54 (vor 1076 Tagen) @ Boggy

Hi Boggy
Du nennst die Gestalttheorie.
Ich sag mal für mich: Etwas sinnvolles machen & Routine suchen.
Dann wird etwas meditativ-heilendes daraus.
Wenn man die Leisung der Menschmaschine nicht verbessern kann, dann wäre es klug die Effizienz zu verbessern.
Und dann schießt sich die Logik der Erklärung ins Knie!
Zuerst in kleine Schritte aufteilen.
Dann verkrampft mehrfach durchziehen.
Immer wieder wiederholen.
Und dann wird irgendwann ein meditativ-hochkonzentriertes glücklichmachendes und entspannendes tun.
Es funktioniert eine Tätigkeit mit wenig Hirnleistungsvermögen, die eigentlich nicht mehr geht.
Wenn man jetzt im Kernspint feststellen würde, dass diese Tätigkeit nicht heilend war, der Patient trotzdem seine Fähigkeiten erweitert hat und glücklich dabei ist?
und nun?

--
Weiß nicht, woher ich komm, weiß nicht, wie lang ich bleib, weiß nicht, wohin ich geh, mich wundert, dass ich glücklich bin ...

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