Die Verrückung der Normalität (Straßencafé)

Boggy, Mittwoch, 20.10.2021, 14:35 (vor 913 Tagen)

Ich habe gerade einen ausgesprochen erhellenden Artikel gelesen, den ich interessierten Foristinnen und Foristen nicht vorenthalten möchte - falls sie ihn noch nicht kennen.

Es geht um die Frage, die mich schon seit geraumer Zeit beschäftigt: wie gefährdet ist unsere Demokratie? Und von wem und wie?

Ich bin politisch groß geworden in einer Zeit, in der Deutschland (West) eine tiefgreifende Veränderung hin zu mehr Demokratie und Demokratisierung durchlebte, und in der möglichst viele der alten Reste der Nazi-Diktatur beseitigt werden sollten und wurden.

Das waren die End-60er und Anfang-70er Jahre.

Nun erlebe ich zum Abschluß meines Lebens eine zunehmende Bedrohung der Demokratie weltweit, und das bewegt mich. Ich befürchte, "ich" hinterlasse den jungen Menschen eine Welt, die nicht nur durch Klimaveränderungen bedroht ist, sondern auch durch antidemokratische, politische Bewegungen - und ich selbst kann hier kaum noch etwas tun.

Meine zunehmende Wirkungslosigkeit - bedingt durch Alter und Krankheit - empfinde ich als bedrückend.
Mich daraus zu lösen, meine zunehmende Wirkungslosigkeit einfach zur Kenntnis zu nehmen, und mich mit dem wenigen, was mir bleibt, einzurichten, empfinde ich als eine schwierige Aufgabe, und als eine notwendige.

Umso mehr freue ich mich über klarsichtige Artikel wie diesen, die mir zeigen, daß es auch andere, wachsame Menschen gibt.

"Die Verrückung der Normalität"
Quelle:
https://www.spiegel.de/kultur/natascha-strobl-ueber-den-radikalisierten-konservatismus

Zitat:
"Radikalisierter Konservatismus ist kein eigenständiges ideologisches Spektrum, sondern eine Dynamik innerhalb des Konservatismus, eine Verrückung der Normalität. Die verschiedenen, kumulierenden Krisen führen dazu, dass die Akzeptanz für das etablierte politische System schwindet.
Das große Versprechen der Nachkriegszeit – es wird von Generation zu Generation besser, und es gibt mehr Wohlstand für alle – ist längst nicht mehr einlösbar. Und wir leben in einer Zeit der vielen Krisen:
(...)
Das Resultat ist, dass es konservative Parteien gibt, die mit den Mitteln der extremen Rechten arbeiten und damit Erfolg haben. Das passiert auf strategischer, ideologischer aber auch handwerklicher Ebene.

Dieser radikalisierte Konservatismus hat dabei einen absoluten Machtanspruch, den er nicht mehr bereit ist, im Ausgleich, im Konsens zu teilen.
(...)
In dieser Krisenzeit ist das Möglichkeitsfenster für Neues so offen wie sonst nicht. Gleichzeitig wird das Bedienen der Interessen verschiedener Kapitalfraktionen im alten System immer prekärer. Diese sehen nun eine Möglichkeit, sie zu verfestigen und setzen auf die Radikalisierung konservativer Parteien und unterstützen sie auch tatkräftig, etwa in Form von Spenden. Politischer Machterhalt und der Machterhalt von bestimmten Kapitalfraktionen gehen also Hand in Hand.
(...)"

Gruß
Boggy

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Um unserer persönlichen und gesellschaftlichen Freiheit willen müssen wir immer wieder die Saat des kritischen Verstandes und des begründeten Zweifels säen.


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