Wahnsinn, oder? (Straßencafé)

Karo, Mittwoch, 16.06.2021, 09:03 (vor 1017 Tagen) @ stefan

"Frühmorgens im Bett: Ich versuche mich von dem Gedanken, verrückt zu werden, eigentlich bereits verrückt zu sein, zu befreien, indem ich mir alles, was gerade geschieht, so erzähle, als sei es bereits geschehen. Es ist eine Art Automatismus. Mir fällt nichts Besseres ein. Das Erzählen macht mich müde. Ich hoffe, noch einmal einzuschlafen und wieder 'normal' zu erwachen."

Aus: Frank Witzel: Erhoffte Hoffnungslosigkeit. Metaphysisches Tagebuch II. Berlin: Matthes & Seitz 2021. S. 9.


Liebe Karo,

Ich finde, dein Zitat zeigt wundervoll jeden Holzweg auf: Denken, also jenem Impuls im Moment nachzugeben, nicht beim aktuellen Gefühl zu bleiben, was gerade in diesem Augenblick eben da ist, sondern in eine Gedankenwelt zu flüchten.

In gewisser Weise beschreibt das Zitat in meinen Augen genau den Prozess, ist Teil davon, von einem „verrückt werden“ bzw es dann in dem Moment zu sein.

Wenn es frühmorgens eine Angst gibt, dann gibt es eine Angst und ich sehe in solch einem Moment gerade eine Chance, mich unmittelbar zu erleben. Versuche bei jener Angst zu bleiben.

Ach das Denken nervt..., all die Worte.

Ich wünsche Dir einen unmittelbaren Tag!

Stefan

Du versuchst, bei jener Angst zu bleiben?

Das ist voraussetzungsvoll, schon weil es bedeutet, dass du "Angst" als Gefühl, das genau in diesem Moment für dich maßgeblich ist, erkennen musst.

Das ist Reflexion, keine Unmittelbarkeit.

Und der Versuch, dabei zu bleiben, bedeutet, dass du steuernd eingreifst oder eingreifen willst.

Auch das ist Reflexion, keine Unmittelbarkeit.

Und dann reflektierst du womöglich darauf, ob der Versuch gelungen ist oder schon im Ansatz verfehlt, weil das Angstgefühl flüchtig war und schon längst einer Freude über den neuen Tag gewichen ist.

Das könnte heißen: immer beobachten, immer auf der Lauer liegen, was jetzt gerade gefühlt wird. Wie anstrengend.

Das Buch ist gut, anregend, weil es versucht, genau solche Prozesse schreibend einzufangen, wohl wissend, dass schon das Schreiben bedeutet, die Unmittelbarkeit des Empfindens zu verlassen. Alles andere wäre Wahnsinn, also wie Wahnsinn beschreiben?

Erleben, Empfinden, Erkennen, Reflektieren, Denken, Sprechen usw. - all das gehört zur Unmittelbarkeit, zum Hier und Jetzt.

Erhoffte Hoffnungslosigkeit eben, unmittelbar, komplex und widersprüchlich.

Alles andere ist Wahnsinn, oder?


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