Entna*ifizierung meiner Mutter (Allgemeines)
bis eben haben Sie von Bruker noch gesagt, Ich habe ihn immer für einen ehrenwerten Mann gehalten. Ich kann und will das nicht anders sagen. Ich muss es sogar tun. Dies ließ mich aufbegehren: Nach heutigem Wissensstand sollten Sie dies nicht mehr 'tun müssen'.
Es ging mir darum, dass ich als junger Arzt bei Bruker nichts erlebt habe, dass ihn mir unangenehm oder verdächtigt machte. Ganz im Gegenteil! Ich habe ihn teilweise sogar verehrt.
Warum ich mich von ihm trennte? Ich glaube, er hatte eine Neigung dazu, das, was er für richtig hielt, wie ein Scharlatan zu vertreten.
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich ihm damit Unrecht tue, aber er hatte etwas Verführerisches, Volksverführerisches. Ich glaube, er hielt sich für klüger als das Volk und seine Patienten.
Vielleicht war er das auch, aber das gab ihm etwas Guruhaftes und Engstirniges. Aber Schwamm darüber...
Meine Mutter - Jg.1925 - war zum Zeitpunkt der Machtergreifung acht Jahre alt. Die Mitgliedschaft im BDM (Bund deutscher Mädel, der 'Hitlerjugend weiblicher Anteil') war seit 1936 verpflichtend ..., dies also seit sie elf Jahre alt war.
Die weibliche Gemeinschaft mit ihrer Lagerfeuerromantik, Naturverbundenheit, Singen, Tanzen (!) etc. war 'ihr Ding', sie hatte organisatorisches Talent und Gruppenleiterqualitäten und brachte es bald bis zur 'Scharführerin'.
Zugleich war sie im katholischen Glauben tief verwurzelt, hilfsbereit, 'moralisch'... Nach fremdbestätigten Erzählungen war sie mit ihrer Mädelstruppe mal im Hauptbahnhof ihrer Heimatstadt unterwegs, als dort vorübergehend ein Güterzug hielt, durch dessen Bretterverschalung dürstende Menschen um Wasser bettelten.
Meine Mutter veranlasste ihre Mädels daraufhin, jenen 'notleidenden' Menschen aus mitgeführten Thermosflaschen etc zu trinken abzugeben und Wasser nachzuholen - woraufhin sie und die Mädels von Bewaffneten rüde zurückgestoßen wurden: dies sei nix für sie und sie sollten besser einen Abgang machen.
Schrecklich!
Auch in der Reichspogromnacht hatte sie am Fenster gestanden und gesehen, wie jüdische Nachbarn durch die Straßen getrieben wurden. Die Großmutter zog sie weg mit etwa den Worten, was da geschehe sei furchtbar und man gucke besser nicht hin.
Kurz vor Kriegsende hatte sie auf Gymnasiallehrerin zu studieren begonnen: Im Zuge der Entnaz*fizierung sah sie nicht nur - erstmals - die Filme mit Originalaufnahmen aus Vernichtungslagern, sondern man schränkte ihr Studienziel ein auf 'technische Lehrerin' für Sport, Hauswirtschaftslehre und Handarbeit. Wegen ihrer 'leitenden' Rolle im 1000jährigen Reich...
Es dürfte ihr vor Scham und Trauer beinahe das Rückgrat gebrochen haben, an was sie 'wegschauend' beteiligt gewesen;
ihr berufliches und privates Leben stand von vornherein unter einem strafbegrenzenden Einfluss;
wenn sie (die sie später 'emanzipierte Frau' war mit ablehnender Einstellung zur Koedukation beider Geschlechter: weil das roh Männliche der freien Entwicklung von Mädchen /jungen Frauen im Wege stehe...!) von der BDM-Romantik zu schwärmen begann, bekam sie unmittelbar heftige Widerrede von uns, ihren Söhnen, die auf die zeitgleichen Na*iverbrechen gegen die Menschlichkeit aufmerksam machten, und die Zusammenhänge des Einen mitdem Anderen...
Das bewegt mich sehr, was Sie berichten.
So etwas meine ich! Man fühlt sich von etwas angezogen, Ihre Frau Mutter vom Lagerfeuer, den Volksliedern und der Gemeinschaft. Bruker vielleicht von der Naturverbundenheit, Lorenz von dem, was man von Tieren lernen kann.
Aber dann ging all das nach dem Krieg in eine Haltung über, die 'verpönt' und uns 'eingeimpft' worden war - und entna*ifiziert werden musste: Lagerfeuerromantik und Naturverbundenheit und Heilkräuter waren auf einmal vom Teufel, weil die Na*is sie geliebt hatten.
Ich habe das lange nicht so formulieren können, erst Renate_S. hat mir die Augen dafür geöffnet. Ich hatte schon als junger Mann eine Affinität zu Konrad Lorenz und der Annahme, dass wir Menschen den Tieren viel näher sind, als wir uns eingestehen möchten. Und dass Zivilisation degeneriert!
Dann erfuhr ich peu à peu, dass auch Konrad Lorenz Na*i gewesen war und möglicherweise sehr biologistisch eingestellt war, und ich schämte mich dafür, dass er mich aufs Glatteis geführt hatte...
Mein Problem ist sehr kompliziert, denn ich bin wie ein Romantiker, der einer schönen Welt nachtrauert, einer Welt, die durch unsere Schuld zerstört wurde, und jetzt denke ich darüber immer wieder nach - und mein Roman wird und wird nicht fertig.
W.W.