Auf der Suche nach einem neuen Christentum (Straßencafé)

W.W. @, Montag, 11.07.2022, 16:04 (vor 626 Tagen)

Was ich jetzt schreibe, ist nicht sehr originell, sondern dem ‚Marionetten-Theater’ von Kleist nachempfunden.

Ich gehe in mein Lieblingscafé. Alle Tische sind besetzt. Ich frage den vorüber eilenden Kellner und er bietet mir einen Stuhl gleich neben ihm an einem Zweiertisch an, an dem nur einer sitzt. Der hat unser Gespräch mitbekommen, und es ist mir sehr peinlich, als er weist einladend auf den leeren Platz. Um das peinliche Schweigen zu überbrücken:

„Ich hoffe. Ich habe Sie gerade nicht gestört?!"

„Nein, überhaupt nicht. Warum fragen Sie?“

„Sie waren so in Gedanken versunken.“

Er lachte.

„Im Deutschen nennt man das – glaube ich - Grillen fangen."

„Grillen?“

„Ja, man vergisst sie so schnell wie einen Traum, wenn man aufgewacht ist, aber das, woran ich eben gedacht hatte, habe ich nicht vergessen, weil es mir in letzter Zeit häufig durch den Kopf gegangen ist.“

Ich empfand das als ein freundliches Entgegenkommen und ging gleich darauf ein:

„Mich würde das sehr interessieren, wenn es Ihnen nichts ausmacht."

Ich hoffe, Sie bedauern das nicht", sagte er etwas ungläubig lächelnd und fuhr fort. "Ich dachte darüber nach, wie es wohl wäre, wenn es einen Gottesbeweis gäbe."

„Und?“, frage ich etwas verwirrt. Ich muss gestehen, dass ich mit so etwas nit gerechnet hatte.

„Ich bin sicher, das müsste furchtbar sein.“

„Warum?"

„Ich denke, es kann keinen logischen Gottesbeweis geben, denn dann wäre Gott ja so etwas wie ein logisches Symbol inmitten von logischen Symbolen.“

„Was wäre daran do schlimm?“

„Weil Gott kein logisches Symbol ist.“

„Sie machen mich neugierig.“

„Wenn Gott so etwas wäre wie ein logisches Symbol, dann wäre er so unheimlich fremd wie der Gott, den sich Spinoza ausgedacht hatte. Er hätte nichts von dem, warum ich zu Gott beten möchte. Er wäre wie ein ehernes Naturgesetz, das immer und ewig gilt?!“

„Also, so ganz schlimm kann ich das immer noch nicht finden!“

Er wurde rot.

„Ich fürchte, das liegt an meinem alten Kinderglauben.“ Und er sang leise: ‚Weißt du, wie viel Sterne stehen…’.

„Würden Sie sich in einem germanischen Pandämonium wohler fühlen?

„In gewisser Weise ja. Es gibt zwar die ‚Götterdämmerung’, aber danach ist die Hoffnung auf ein Neues gerichtet, z.B. die Wiederkunft Baldurs.“

„Und dann?“
„Asgard, Midgard und - die dritte Welt habe ich vergessen. Die wären dann ja überwunden, und es gäbe keine Götter mehr, die sich mit Riesen streiten oder Zwerge, die an nichts anderes denken als an Geld und Gold, und keine Menschen, die sich mit List und Trug dazwischen behaupten.“

„Sondern?“

„Ein Reich des Lichts! Allerdings kann ich mir das nicht vorstellen.“

Nachdenklich fügt er hinzu: „Lessing hat in seinen letzten Lebensjahren das Büchlein 'Die Erziehung des Menschengeschlechts' geschrieben. Darin fasst er die christliche Religion als ein pädagogisches Experiment auf: Das Alte Testament für Kinder und das Neue Testament für reife Erwachsene."

„Das klingt ziemlich ungeheuerlich.“

„Früher dachte ich, mit Lessing sei die Phantasie durchgegangen, und er schien mir unsere Vorstellung von Gott damit gleichzusetzen, wie herrlich weit wie es mit unserem Denken gebracht hätten…“

„Sie sprechen in Rätseln.“

„Früher war Gott ein geschickter Mechaniker, aber dann wurden die Lebewesen mit Wssser, Dampf und Wind bewegt, dann mit Elektrizität und schließlich mit Computerintelligenz.“

Nachdenklich: „Wir sind ja auch in Geschichten an die Rätsel der Welt herangeführt worden: Die Schöpfungsgeschichte, die Vertreibung aus dem Paradies, Kain und Abel, die Arche Noah, Sodom und Gomorra, Der Turm zu Babel, aber später auch von der Geschichte über Jesu’ Geburt, der Bergpredigt, seiner Kreuzigung und Wiederauferstehung. Alles Geschichten also!“

„Allerdings werden sie immer komplizierter!“

Ich hatte ihm aufmerksam zugehört.

„Und was kommt nach Lessing als drittes?“

„Lessing wusste es nicht, und ich weiß es auch nicht. Aber ich könnte mir vorstellen, dass es keine ‚Geschichte’ mehr ist.“

„Dann könnte man sie ja nicht mehr erzählen!“

„Nicht einmal mehr denken! Solaris und Wärmetod, Urknall, Zeit als Raumdimension, Dualismus von Körpern und Wellen, Schrödingers Katze…“

Er lachte.

„Solche Geschichten werden leicht zu Kafkaschen Parabeln, bei denen man nicht mehr weiß, wo man dran ist: Beispiel 'Die kaiserliche Botschaft.

„Aber was hat das mit der Ausgangsfrage zu tun?“

Er antwortete sehr betont: „Das, was logisch ist, muss ja nicht unbedingt wahr sein!“

Er schaute auf die Uhr und erhob sich.

"Leider habe ich gleich einen dringenden Termin."

Das war das Gespräch, das mir viel zu denken gegeben hat.

W.W.


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