Die Autoimmun-Hypothese (Version 2) (Allgemeines)
Das Tiermodell der MS
Dann war es nur noch eine Frage der Zeit, bis man ein Tiermodell der MS entwickelte, die experimentelle allergische Encephalomyelitis (EAE). Das war ja klar, dass man lieber an Tieren als an Menschen experimentieren wollte. Aber weil nur wenige Tiere eine Encephalomyelitis entwickelten, musste man 'nachhelfen', indem man ihnen nicht nur artfremdes Myelin spritzte, sondern dieses auch noch mit Motorenöl und Tuberkelbakterien vermischte. Selbst dieser grausige Cocktail hatte nur in einigen Fällen den erwünschten Erfolg, und man musste dann Ratten, Goldhamster und Pinseläffchen genetisch verändern, damit sie 'anfälliger' für die EAE wurden.
Es gibt keine Lymphozyten im Gehirn.
Aber die Geschichte ist noch nicht ganz zuende. Es kam zu etwas, wovon ich als Student in den 70er Jahren noch nichts geahnt hatte. Vielleicht war ich ja nicht aufmerksam genug, aber viele Dinge waren damals eben noch nicht bekannt, z.B. dass kein Lymphgefäßsystem im Gehirn existiert und dass es normalerweise keine Lymphozyten im Gehirn gibt. Sie müssen erst über einen komplizierten Mechanismus aus dem Blut durch die Blut-Hirn-Schranke (BHS) hindurch ins Gehirn eingeschleust werden. Als dies nach und nach bekannt wurde, setzte sich folgende Annahme durch: Lymphozyten sind bei der Geburt noch 'dumm' und müssen erzogen werden. Die Erziehung erfolgt im Wesentlichen dadurch, dass alle Lymphozyten, die gegen körpereigenes Gewebe gerichtet sind, durch die erdrückende Übermacht abgetötet werden, so dass nur die Lymphozyten überleben, die das körpereigene Gewebe tolerieren und nur gegen fremdes Eiweiß gerichtet sind.
Und jetzt kommt der Clou! Wenn nämlich Lymphozyten normalerweise nicht in das Gehirn eindringen können, dann können sie auch nicht lernen, dass das Myelin eine körpereigene Substanz ist! So kam man auf Natalizumab (Tysabri).
Warum es Zweifel an der Autoimmun-Hypothese gibt.
Wir erinnern uns: Die Geschichte begann mit den Lymphozyten, die zuhauf in den MS-Herden gefunden wurden. Es war naheliegend, daraus den Schluss zu ziehen, dass die MS eine Entzündungskrankheit sei und zwar eher eine chronische als eine akute. Aber wenn man die Lymphozyteninvasion missdeutet hätte?
Im Februar 2004 erschien in den Annals of Neurology eine histopathologische Studie. Der angesehene Neuropathologe Prineas untersuchte die Hirngewebsprobe eines 14jährigen Mädchens, das 17 Stunden nach dem Beginn eines Schubes verstorben war. Um Sie zu beruhigen: Ein MS-Schub, der zum Tod führt, ist zum Glück eine absolute Seltenheit. Er bot jedoch Prineas die einzigartige Möglichkeit, einen frischen MS-Herd in weniger als einem Tag histologisch zu untersuchen. Hätte die bisherige MS-Theorie gestimmt, dann hätte man unter dem Mikroskop eine Invasion von Lymphozyten finden müssen. Völlig überrascht musste Prineas jedoch feststellen, dass die Myelinscheiden im Herd intakt waren und jede Spur von Lymphozyten fehlte. Was er stattdessen sah, war der Untergang von Oligodendrozyten.
(Barnett MH, Prineas JW. Relapsing and remitting multiple sclerosis: Pathology of the newly forming lesion. Annals of Neurology; 55: 458-468)
Dieser Befund scheint die bisherige MS-Forschung auf den Kopf zu stellen. Die nächstliegende Schlussfolgerung ist, dass die Lymphozyten seit Jahrzehnten verkannt wurden und keineswegs die Schurken sind, für die sie bisher gehalten wurden. Sie stehen nicht am Anfang des Zerstörungsprozesses, sondern sind möglicherweise ganz im Gegenteil Träger von Reparaturmaßnahmen.
Das ist in Kürze die Geschichte über die Autoimmunhypothese, wie ich sie erzählen würde.
W.W.